Graz
1809–1914
Der Verlust der Festung zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist nur der Anfang rascher Veränderungsprozesse. Die Industrialisierung und explodierende Bevölkerungszahlen führen zu einem sich ändernden Stadtbild. Neu entstandene große Betriebe ziehen Menschen in die Stadt – die Arbeiterklasse entsteht.
Die Veränderungen betreffen auch das soziale Gefüge. In verschiedenen Bevölkerungsschichten streben Frauen nach mehr Selbst- und Mitbestimmung. Das Bürgertum befindet sich zwischen Begeisterung für technische Innovationen und Industrialisierungsprozessen einerseits, Nostalgie und Angst vor Veränderungen andererseits. Biedermeierliche Idylle und Modernisierung stehen einander gegenüber.
Kulturell und auch politisch zunehmend spürbar wird die deutschnationale Gesinnung in der „deutschesten Stadt der Monarchie“.
Das Damenfahrrad aus dem Jahr 1900 verfügt typischerweise nicht nur über ein Kleidernetz, sondern auch über eine Karbidlampe als Lichtquelle. Diese Gaslampe war ab den 1890ern für Gebäude, Fahrräder und andere Fahrzeuge in Gebrauch. Als Brennstoff diente Calciumcarbid, das in Verbindung mit Wasser Ethin-Gas zur Entzündung freisetzte. Karbidlampen waren teils bis in die 1950er-Jahre beliebt, weil sie sehr leicht, hell und relativ günstig waren. Danach wurden sie von elektrischer Beleuchtung verdrängt.
Ein „Windischer“ macht Österreich mobil
Als der Untersteirer Janez Puh als Johannes Puch vom kleinen Handwerker zum Fabrikbesitzer aufstieg, wandelte sich Graz von einem verschlafenen Provinzstädtchen zu einem Industrie- und Handelszentrum. Die Anbindung an die Südachse des Eisenbahnnetzes mit der Trasse Graz-Mürzzuschlag im Jahr 1844 hatte die Stadt ins Industriezeitalter befördert. Neben den Puchwerken lockten weitere Großbetriebe wie die Brauereien Reininghaus und Puntigam, die Andritzer Maschinenfabrik, die Weitzer Waggonfabrik oder die Schuhfabrik D. H. Pollak & Co. (heute: Humanic) zigtausend Arbeitsuchende vom Umland in die Stadt.
Das Wasser der Mur wurde zum Bewässern von Feldern, zum Löschen von Bränden oder – wie hier zu sehen – zum Wäschewaschen verwendet. Im 19. Jahrhundert war dieses noch eine Schwerstarbeit, die Frauen verrichteten. Die Wäsche wurde per Hand geklopft, geschrubbt, ausgeschwemmt, ausgewrungen und über Leinen zum Trocknen gehängt.
Die nach Kaiser Ferdinand I. benannte Kettenbrücke wurde durch Franz Strohmeyer, den Pächter der Überfuhr, und nach Plänen des Wiener Architekten Johann Jäckl errichtet. Sie war die erste Kettenbrücke der Steiermark und die größte Österreichs. An ihrer Stelle befindet sich heute die Keplerbrücke.
Die dem Älteren Bäckerei-Consortium angehörende Rottalmühle mit den zwei hohen Giebeln ist einer jener Betriebe, die vor Einführung der Dampfmaschine ihre Energie aus dem linken Mühlgang bezogen.
Links im Bild liegt ein Floß auf der Mur. Der noch unregulierte Fluss ist zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch immer ein Verkehrsweg für Personen und Güter.
Die Pruggmeier’sche Hadernstampfe ist eine Papiermühle, also ein Betrieb, in dem Papier aus Pflanzenfasern bzw. Lumpen hergestellt wird. Das so gewonnene Papier wurde unter dem Dach und im Garten zum Trocknen aufgehängt.
Frühindustrialisierung – ein Grazer Idyll
Im Vordergrund beherrscht die Beschaulichkeit des Biedermeiers das Bild. Im Mühlgang liegt die Hauptenergiequelle von damals: die Wasserräder der Mühlen. Doch im eigentlichen Zentrum steht das neue Industriezeitalter. 1833 wurde an der Stelle der heutigen Keplerbrücke die erste steirische und damals größte österreichische Kettenbrücke errichtet, die Ferdinand-Kettenbrücke. Um die Fahrbahn zu halten, brauchte es zwei mächtige gemauerte Kettenhäuser beiderseits der Mur. Technischen Meisterleistungen wie dieser ist auch der Ausbau der Bahnstrecken zu verdanken.
Graz, das Nürnberg des Südens
Mit dem Amtsantritt von Bürgermeister Franz Graf fiel 1897 die Entscheidung für den Bau eines neuen Stadttheaters. Der kulturpolitische Antrieb der Stadtregierung war eindeutig: Es sollte eine deutschnationale Weihestätte der Wagner-Pflege werden. In Graz herrschte große Begeisterung für Richard Wagner, die Leitfigur des deutschsprachigen Kultur-Bürgertums. Davon zeugt die Marmortafel auf der Rückseite des heutigen Opernhauses mit den Versen des Hans Sachs aus der Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“.
Die deutsche Vormachtstellung beginnt zu wanken
Als Vielvölkerreich war die österreichisch-ungarische Monarchie von Sprachenvielfalt gekennzeichnet. Am verbreitetsten waren Deutsch, Ungarisch, Tschechisch, Polnisch, Ukrainisch, Rumänisch, Kroatisch, Serbisch, Slowakisch, Slowenisch und Italienisch. Deutsch war die dominierende Amtssprache. Den Minderheiten wurden ab 1867 formale Freiheiten eingeräumt, im k. u. k. Reichsrat waren zehn Sprachen zugelassen. Trotzdem wurden die Unabhängigkeitsforderungen einzelner Nationalitäten immer stärker.
Insbesondere in Graz und der Steiermark, als Grenzgebiet zum slawischen Raum, kamen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend deutschnationale Tendenzen auf. 1889 wurde der mitgliederstarke Verein Südmark gegründet, der sich für den Gebrauch der deutschen Sprache im Grenzgebiet bzw. deutsche Sprachinseln in fremdsprachigen Gebieten einsetzte. Den einflussreichen Verein prägte eine zunehmend slawenfeindliche Haltung, die zahlreiche Bürger/-innen in dieser Zeit einnahmen.
Grenze der Österreichisch-Ungarischen Monarchie 1908 |
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Die Österreichisch-Ungarische Monarchie ist ein Vielvölkerreich. Die Verwaltungen versuchen, durch Volkszählungen einen Überblick über die ethnischen Zugehörigkeiten zu erlangen. Dabei wird jedoch nicht die Nationalität, sondern die Alltagssprache abgefragt. Die Befragten wissen oft selbst nicht, zu welcher Sprache sie sich bekennen sollen. Viele Grazer Sloweninnen und Slowenen glauben, sich als deutschsprachig erklären zu müssen. Bei der Erfassung der relativen Mehrheit gehen auch die unzähligen Minderheiten verloren. |
Projekt Stadt
Auch im 19. Jahrhundert war es die Stadt, die den gesellschaftlichen Wandel beförderte, die für Hygiene, Infrastruktur und kulturelle Einrichtungen sorgte. In der ersten Jahrhunderthälfte leitete Erzherzog Johann den Aufbruch der Stadt Graz in eine technisch-wissenschaftliche Wissensgesellschaft ein.
Die Gründerzeit der 1870er- und 1880er-Jahre war auch in Graz geprägt vom liberalen Bürgertum. Die individuelle Freiheit der Person und des Eigentums bildeten die Voraussetzungen für eine kapitalistische Gesellschaftsordnung. Konzept und Lebensform des Bürgerlichen wurden über die sozialen Grenzen und die herrschenden Gesellschaftsordnungen hinweg zum Ideal erhoben.
Aber das „bürgerliche Projekt“ begann sich in ideologischen Machtkämpfen selbst zu fragmentieren und zu zerstören. Die entwurzelten kleinbürgerlichen Schichten suchten eine neue Übersichtlichkeit in einer überschaubaren Gemeinschaft mit eindeutigen Feindbildern.
Geschlechterrollen
Die Frau als Hausfrau und Mutter, der Mann als Familienernährer – das war das bürgerliche Ideal des 19. Jahrhunderts. Gleichzeitig wurden die Forderungen immer vehementer, diese starren Geschlechtergrenzen aufzubrechen. Frauen schlossen sich zu sozialen, politischen und wirtschaftlichen Bewegungen zusammen. Adelige und bürgerliche Frauen gründeten – wie 1848 in Graz – Vereine der Fürsorge und Bildung. Arbeiterinnen organisierten sich, um gerechte Entlohnung, geregelte Arbeitszeiten und vermehrt auch das Wahlrecht zu fordern.
Die Voraussetzung für Gleichheit war das Recht auf Schulbildung oder berufliche Ausbildung – ein Recht, das allmählich erkämpft wurde: 1873 eröffnete in Graz, im Gebäude des heutigen GrazMuseum, das erste Mädchenlyzeum der Monarchie. 1898 wurde an der Universität Graz die erste ordentliche Hörerin zugelassen.
Vielfalt
Im Zeitalter von Erzherzog Johann prägte die Aufklärung den Denkstil der Gebildeten in den Freimaurerlogen, Akademien, Salons und Lesezirkeln. Der österreichische Polizeistaat des Staatskanzlers Metternich aber schuf das Gegenteil einer liberalen Gesellschaft. Spitzelwesen, Zensur und die Einschränkung der Meinungsfreiheit waren Alltag. Dennoch: Mit der Märzrevolution von 1848 brachen liberale Tendenzen hervor.
Auch gegen ein anderes Phänomen der Zeit ging das System vor: den Nationalismus, der unvereinbar mit den vielen Völkern der Habsburgermonarchie schien. Nachdem Metternich gestürzt war, wurde immer vehementer nationale Selbstbestimmung gefordert. Nach der Niederlage Österreichs im Krieg gegen Preußen 1866 entstand schließlich ein „kleindeutscher“ Nationalstaat. Als 1870/71 das Deutsche Kaiserreich ausgerufen wurde, setzten viele Deutschsprachige ihre Hoffnung auf die neue europäische Großmacht – nicht nur in Graz.
Stadtbilder
Die Festung auf dem Schlossberg wurde nach dem Sieg des napoleonischen Heeres über die Habsburgischen Truppen 1809 gesprengt und das Grazer Stadtbild verlor sein dominantestes Merkmal. Ein Teil der landesfürstlichen Burg, viele Wehranlagen, Basteien und Stadttore wurden geschleift.
An ihrer Stelle entstanden die Ringstraße und die Englischen Gärten auf dem Schlossberg und im Stadtpark. Auch die gründerzeitlichen Wohnviertel in Geidorf und St. Leonhard entwickelten sich. Auf dem Gelände des ehemaligen „Hofgartens“ wurde der klassizistische Franzensplatz als der nobelste Platz von Graz errichtet – der heutige Freiheitsplatz.
Verkehrswege wurden begradigt und reguliert, moderne Brücken verbanden die Altstadt mit den Bezirken Gries und Lend, gleichzeitig wurde die Annenstraße zum Hauptbahnhof angelegt. Allein zwischen 1885 und 1900 entstanden 1800 Neubauten. Die Stadt Graz, wie wir sie heute kennen, war damit in ihrer Kerngestalt abgeschlossen.
Ostbahnhof
1857 war die Bahnstrecke von Wien über den Semmering bis Triest fertiggestellt. Dass diese Verbindung über Graz ging, ist weniger Erzherzog Johann zu verdanken als der Angst des Hofes vor einer ungarischen Revolution (die dann 1849 auch niederzuschlagen war). Wegen dieser Befürchtung war die ursprüngliche Trassenführung über Ungarn abgeblasen worden. Nach der Etablierung der Österreichisch-Ungarischen Monarchie freilich war die Verbindung mit Ungarn wieder erwünscht: Der Ostbahnhof, Endpunkt der 1873 errichteten ungarischen Westbahn, zeugt davon.
Seifenfabrik
Die Industrielle Revolution ging in Graz, auch wegen der unterentwickelten Verkehrsverhältnisse, zunächst nur sehr vonstatten. Die Universitäts- und Verwaltungsstadt blieb lange von Klein- und Mittelbetrieben geprägt. Die um 1850 einsetzende Industrialisierung war aber dennoch die Grundlage dafür, dass sich die Einwohner*innenzahl bis 1900 fast verdreifachte. Die heute für Events genutzte Seifenfabrik im Arbeiterbezirk Liebenau ist ein industriehistorisches Denkmal. Aber Graz hatte zu keiner Zeit den eindeutigen Charakter einer Industriestadt.
Vinzenzkirche
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wuchs Graz industriell nach Westen gegen die Bahn zu. Damit formierte sich die Stadt endgültig in zwei Hälften: jenseits der Mur Kleinhandwerker*innen, Kleinbürger*innen und Arme und noch weiter westlich – rund um die Fabriken – die Quartiere der Arbeiter*innen. Im Osten das Besitz- und Bildungsbürgertum, das sich sein religiöses Zentrum mit der Herz-Jesu-Kirche schuf. Ihr westliches Gegenstück ist die 1895 geweihte Vinzenzkirche in Eggenberg, das damals außerhalb der Stadt lag.
Landeskrankenhaus – Universitätsklinikum Graz
An der Wende zum 20. Jahrhundert gehörten die Jugendstilbauten des Grand Hotel Wiesler, des Hotels Erzherzog Johann oder des Großkaufhauses Kastner & Öhler zu den wenigen Zeichen internationaler Modernität. Eine weitere Manifestation war das auch überregional sehr beachtete Landeskrankenhaus. Wegen seiner stadtfernen Lage zunächst bekämpft, wurde die ausgedehnte Anlage im Pavillonsystem mit unterirdischen Verbindungsgängen wegen ihrer überlegenen Funktionalität und sezessionistischen Ornamentik rasch angenommen.
Städtisches Amtshaus
1885 wandelte sich Graz von einer bürgerlich-liberalen zur „deutschesten Stadt der Monarchie“. Bürgermeister Franz Graf war ein in allen „deutschen Landen“ gefeierter Held gewaltsamer Demonstrationen, die als Rassenkampf der Germanen gegen die Slawen inszeniert wurden. Bei Repräsentationsbauten, wie dem Städtischen Amtshaus von 1904, ist das „Nationale“ direkt oder indirekt Hintergrund einer Baugesinnung, die alle Stile (alt-)deutsch zu deklinieren wünscht. Liberale bevorzugten die Renaissance, Deutschnationale die Gotik.
Herz-Jesu-Kirche
Das private Wohnhaus, nicht zur Siedlung gruppiert, sondern in positiver Beziehung direkt an die öffentliche Straße angrenzend – dieses urbane Muster der Gründerzeit erfreut sich laut Immobilienpreisspiegel nach wie vor der größten Nachfrage. Den Gipfel stellt das Viertel um die Herz-Jesu-Kirche dar, jenen neofrühgotischen Rohziegelbau von Georg Hauberisser d. J., der den gutbürgerlichen, östlichen Teil der Stadt städtebaulich beherrscht. Sein 1887 vollendeter Südwestturm gehört zu den höchsten des heutigen Österreich.